Im Laufe der Jahrhunderte wurden Hunderte von Weihnachtsliedern komponiert. Viele geraten schnell in Vergessenheit.
Keine stille Nacht.
In mindestens 300 Sprachen übersetzt, von der UNESCO als wertvoller Teil des immateriellen Kulturerbes ausgezeichnet und in Dutzenden verschiedener Musikstile arrangiert, von Heavy Metal bis Gospel, ist Stille Nacht zu einem ewigen Bestandteil der weihnachtlichen Klanglandschaft geworden.
Seine Ursprünge – in einer kleinen Alpenstadt im österreichischen Hinterland – waren viel bescheidener.
Als Musikwissenschaftler, der sich mit historischen Liedtraditionen beschäftigt, hat mich die Geschichte von Stille Nacht und ihrem kometenhaften Aufstieg zu Weltruhm schon immer fasziniert.
Die Folgen von Krieg und Hungersnot
Der Text des Liedes wurde ursprünglich auf Deutsch kurz nach dem Ende der Napoleonischen Kriege von einem jungen österreichischen Priester namens Joseph Mohr geschrieben.
Im Herbst 1816 geriet Mohrs Gemeinde in Mariapfarr unter Schock. Zwölf Jahre Krieg hatten die politische und soziale Infrastruktur des Landes dezimiert. Unterdessen war das Jahr zuvor – ein Historiker würde später „Das Jahr ohne Sommer“ taufen – katastrophal kalt gewesen.
Der Ausbruch des Mount Tambora in Indonesien im Jahr 1815 verursachte einen weit verbreiteten Klimawandel in ganz Europa. Vulkanasche in der Atmosphäre verursachte im Hochsommer fast ununterbrochene Stürme – sogar Schnee. Die Ernten scheiterten und es kam zu einer weit verbreiteten Hungersnot.
Die Gemeinde Mohr war verarmt, hungernd und traumatisiert. Also entwarf er eine Reihe von sechs poetischen Zeilen, um die Hoffnung auszudrücken, dass es noch einen Gott gab, der sich kümmerte.
Stille Nacht, so heißt es in der deutschen Fassung, „heute ist alle Kraft der väterlichen Liebe ausgegossen, und Jesus umarmt als Bruder die Völker der Welt“.
Eine fruchtbare Zusammenarbeit
Mohr, ein begnadeter Geiger und Gitarrist, hätte wohl die Musik zu seinem Gedicht komponieren können. Aber stattdessen nahm er die Hilfe eines Freundes in Anspruch.
1817 wurde Mohr in die Pfarrei St. Nikolaus in der Stadt Oberndorf, südlich von Salzburg, überführt. Dort bat er seinen Freund Franz Xaver Gruber, einen ortsansässigen Lehrer und Organisten, die Musik für die sechs Zeilen zu schreiben.
Am Heiligabend 1818 sangen die beiden Freunde zum ersten Mal gemeinsam Stille Nacht vor der Mohrer Gemeinde, wobei Mohr Gitarre spielte.
Das Lied fand offenbar großen Anklang bei den Gemeindemitgliedern von Mohr, von denen die meisten als Bootsbauer und Verlader im Salzhandel, dem Herzen der Wirtschaft der Region, tätig waren.
Die Melodie und Harmonisierung von Stille Nacht basiert eigentlich auf einem italienischen Musikstil namens Siciliana, der das Rauschen des Wassers und der rollenden Wellen imitiert: zwei große rhythmische Beats, die in jeweils drei Teile unterteilt sind.
So spiegelte Grubers Musik die alltägliche Klangwelt der Mohrgemeinde wider, die an der Salzach lebte und wirkte.
Stille Nacht wird global
Doch um ein globales Phänomen zu werden, müsste „Stille Nacht“ weit über Oberndorf hinaus Resonanz finden.
Nach einer von Gruber 1854 verfassten Urkunde wurde das Lied erstmals im nahen Zillertal populär. Von dort aus nahmen die beiden reisenden Volkssängerfamilien Strasser und Rainer die Melodie in ihre Shows auf. Das Lied gewann dann in ganz Europa und schließlich in Amerika an Popularität, wo die Rainers es 1839 an der Wall Street sangen.
Gleichzeitig verbreiteten deutschsprachige Missionare das Lied von Tibet bis Alaska und übersetzten es in lokale Sprachen. Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte Stille Nacht sogar subarktische Inuit-Gemeinden entlang der Küste von Labrador, wo es von Unuak Opinak ins Inuktitut übersetzt wurde.
Die Texte von Stille Nacht haben immer eine wichtige Botschaft für Heiligabendfeiern in Kirchen auf der ganzen Welt transportiert. Aber die singende Melodie und der friedliche Text des Liedes erinnern uns auch an ein universelles Gefühl der Anmut, das das Christentum transzendiert und Menschen über Kulturen und Religionen hinweg vereint.
Vielleicht war diese Botschaft zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte des Liedes wichtiger als während des Weihnachtsfriedens von 1914, als auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs deutsche und britische Soldaten an der Front in Flandern an Heiligabend ihre Waffen niederlegten und sangen zusammen Stille Nacht.
Die grundlegende Friedensbotschaft des Liedes, auch inmitten von Leiden, hat Kulturen und Generationen überbrückt. Das machen großartige Lieder. Sie sprechen von Hoffnung in schwierigen Zeiten und von der Schönheit, die aus dem Schmerz entsteht; sie bieten Komfort und Sicherheit; und sie sind von Natur aus menschlich und unendlich anpassungsfähig. (Die Unterhaltung)
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