Die Bastarde kommen von 100.000 Anhängern, schreibt Jan Böhmermann. Ein Witz natürlich. Denn auf Twitter waren alle von Anfang an dabei: die lauten und wütenden, die ironischen, alten weißen Männer, die Feministinnen.
Wahrer Wille Twitter immer noch von nur wenigen Deutschen benutzt, aber sie sind die Sprecher und Frauen in diesem Land. Zumindest sieht Böhmermann das so. Seine mit viel Pathos beladene These lautet, dass hier die reale Welt vom digitalen Raum aus verändert werden kann.
Also im Rampenlicht: Jan Böhmermann. Der ZDF-Moderator und Spotify-Podcaster hat sich im Laufe der Jahre zu einer starken Stimme auf Twitter entwickelt. Derzeit hat er etwa 2,2 Millionen Anhänger. Darüber hinaus mögen mehrere Millionen, die seine Gedanken zu 280 Zeichen mögen, retweeten oder zitieren. Kein Politiker oder Chefredakteur in Deutschland kann mithalten. Wie kommt es? Und was kann Böhmermann in dieser realen Welt bewegen?
Sein neues Buch „Gefolgt von niemandem, dem du folgst“ fühlt seinen Puls ziemlich gut. Böhmermann druckte eine Auswahl seiner ersten 25.800 Tweets – einschließlich Fußnoten für Menschen und zeitliche Kontexte. Eine „umfangreiche Kulturgeschichte des letzten Jahrzehnts“, schreibt sein Verlag zuversichtlich. Naja. Die Welt zwischen Januar 2009 und Februar 2020 sieht Jan Böhmermann so.
Aber bis wirklich etwas passiert, braucht es viele Seiten und eine Reihe von Tweets. In gewisser Weise stellt Böhmermann zuerst die Hauptfigur vor. Ein Freiwilliger von Radio Bremen, der durch eine Lukas Podolski Parodie und als Scherzautor für bekannt wurde Harald Schmidt schreibt. „Hungrig!“ ist Böhmermanns erster Tweet. Dann arbeitet er in kurzen Witzen an Hipstern: „Wetten, dass …?“ Kai Diekmann oder Campino von. Eine gute Sammlung von Materialien für einen soliden Abreißkalender.
Böhmermann findet schnell Zugriff auf die Echtzeitmaschine Twitter. Er schreibt als dadaistischer Unsinn, als Satiriker und dann wieder mit der Stimme des Besserwissers. Er wechselt so schnell die Rolle, dass er sich tatsächlich unantastbar macht. Aber wer behauptet, Böhmermann habe nur das Internet ausgedruckt, liest hier nicht mehr.
Denn dann fällt das Buch um. Flüchtlingskrise, Silvester in Köln, ein Menschenmenge in Clausnitz, Halt am Breitscheidplatz, Trumpf. Es ist die Auswahl der Tweets, die sich nach einem knappen Drittel plötzlich ändert. Und es sind die Hasskommentare, die Böhmermann jetzt als scharfe Pointe unter seinen Tweets hinterlässt. Twitter, sollte man nie vergessen, ist immer noch ein Ort, an dem Sätze wie „Nazis out“ zur Diskussion stehen. Als ob es zwei Meinungen dazu gäbe.
Im Sturm der Textnachrichten werden bestimmte Themen im Buch dringlicher: Rechtsextremismus, Demokratie, Europa. Die Affäre um Böhmermanns Gedicht über den türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan führt zu Hunderttausenden neuer Anhänger.
Die mutwilligen Einwände sind nicht spürbar. Nach dem Terroranschläge in Paris Böhmermann twitterte 100 Fragen („60. Für welche Überzeugung würde ich sterben?“). Er schreibt öffentlich an Bundespolitiker nach der Inhaftierung von Deniz Yücel Auf. Er und seine Kollegen versammeln sich zu Sea-Watch Klaas Heufer-Umlauf Eine Million Euro an Spenden und er gründet eine Bürgerrechtsbewegung, die sich gegen Hassreden-Aktivisten stellen sollte.
Mit seiner Reichweite ist Böhmermann zu seiner eigenen Medienmacht geworden. Er sortiert die Nachrichtensituation, er erfüllt den Wunsch nach Klassifizierung. Und viele fühlen sich auf der richtigen Seite. Gefolgt von allen, die dir folgen. Es spielt keine Rolle, wie sehr eine rechte Flanke ihn als eine hasserfüllte Persönlichkeit des öffentlichen Rechts dämonisiert. Böhmermann ist auf seine Weise zu einer Art Robert Habeck der linken Twitter-Blase geworden. Tatsächlich zeigt das Buch hauptsächlich, wie sehr der „digitale Raum“ und die „reale Welt“ verschmelzen.
Es funktioniert alles gut, weil es so starke Reaktionen hervorruft, weil die Öffentlichkeit parasoziale Beziehungen zum Tweeten Böhmermann aufgebaut hat. Journalisten wollen mit ihm auskommen, Politiker wollen sich gegen ihn stellen. Prominente reagieren gerne unaufgefordert auf seine Tweets – und Böhmermann zeigt sie gerne der Reihe nach.
Es wäre jedoch die größere Herausforderung gewesen, wenn Böhmermann wirklich ein Buch geschrieben hätte. Keine Performance-Literatur, in der die Idee Vorrang vor dem Inhalt hat. Besonders bei Böhmermann, der oft betont, dass er hinter den Kulissen seiner Kunst als Schriftsteller arbeitet. Aber hier hätte er etwas zu verlieren gehabt.
Die Medienmarke Böhmermann auf Twitter in ihrer Verflechtung mit der Welt, das wäre ein interessanter Blick. Aber jemand anderes sollte. Stattdessen schreibt Böhmermann über Böhmermann und kreiert schließlich sein eigenes „Bravo“ -Sternmuster. Es ist also weniger eine Sicht der Gesellschaft geworden, wie er es gerne hätte, sondern eher ein Fanbuch, das der Künstler selbst zusammengestellt hat.
„Jesus Christus, ich schreibe nur auf, was passiert“, paraphrasiert Böhmermann an einer Stelle auf die beste SPIEGEL-Weise. All dies kann nicht mehr kontrolliert werden. Kurz bevor das Buch herauskam, löschte er alle seine 25.800 Tweets.